Gerhard Roth ist einer der renommiertesten Hirnforscher und wichtigsten Naturwissenschaftler im deutschsprachigen Raum. In seinem neuen Buch „Über den Menschen“ rüttelt er ganz gehörig an unserem Menschenbild. Ganz kurz zusammengefasst stellt er unseren freien Willen als Illusion hin, da wir einer Marionette gleich von unserem Gehirn gesteuert werden.
06.12.2021
In einem hochspannenden Interview hat er dies anhand eines Beispiels erklärt: Wir fahren auf einer Straße und es kommt uns ein Auto entgegen, ein Fahrzeug, das wir noch nie gesehen haben, also eine völlig neue Situation, aber trotzdem nur für unser Unterbewusstsein interessant. Unser Bewusstsein schaltet sich nur dann ein, wenn sich dieses Fahrzeug irgendwie auffällig verhält. Und dann entscheidet es, ob es unsere Aufmerksamkeit verdient, beispielsweise weil es gefährlich weit auf unsere Fahrspur wechselt. Wenn dies passiert, steuert unser Bewusstsein das Gehirn und dieses gibt entsprechende Befehle an unsere Gliedmaßen weiter: ausweichen, bremsen, anhalten, Kennzeichen merken usw. Dieser Vorgang wird uns ganz besonders in Erinnerung bleiben, weil er unsere volle Aufmerksamkeit gefordert hat.
Danach schalten wir wieder auf Autopilot. Ein Zustand, wo Gehirn und Geist kaum zusammenarbeiten. Unser überwiegender Alltag, wo wir so sind, wie wir eben sind. Aber warum bin ich so, wie ich bin? Und warum ist es so schwierig, sich oder andere zu ändern?
Roth hat in diesem Gespräch unter anderem erwähnt, dass viele Menschen verlernt haben, oder nie reflektiert haben, im entscheidenden Moment einen Schritt zurück zu machen, sich Zeit zu nehmen und beispielsweise zu fragen: Will ich das wirklich? Roth geht sogar so weit, die Schuldfrage in diesem Kontext in Frage zu stellen. Straftäter, die diese Fähigkeit nicht haben, tragen somit auch keine Schuld an ihrer Handlung, da sie nicht bewusst durchgeführt wird. Ich weiß, das ist eine sehr provokante These! Aber für mich auch tröstend angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Ereignisse.
In einem anderen Interview mit Franz Welser-Möst hat dieser gemeint, dass wir es nicht mehr schaffen, zivilisiert Meinungsverschiedenheiten miteinander auszutragen. Wir sind im Narzissmus angekommen und stammeln von Diktatur und Freiheitsberaubung. Es wird nachgeplappert, was die schlimmsten Rechtspopulisten an Zuspitzungen von sich geben und wir zerstören und ruinieren dabei – wieder frei nach Welser-Möst – Stück für Stück unsere Demokratie!
Das Bild von der gehirngesteuerten Marionette stimmt mich persönlich versöhnlicher. Ohne Seele, Geist oder eigenen Willen wird eine Freiheit eingefordert, die durch das eigene Verhalten zerstört wird. Aber um das zu erkennen, müsste man die Kunst der Reflektion beherrschen: zurücktreten, Zeit nehmen und sich in Frage stellen. Und das ist wohl nicht gerade die Stärke unserer neuen Freiheitskämpfer!
Business-Concierge und Charakter Trainer
Reflexion mag ein Gebot der Stunde sein, aber das sehe ich persönlich derzeit nicht in unserer Politik, nicht bei den vielen sogenannten Experten, und leider auch vielfach nicht in unserer momentanen Gesellschaft. Ich nehme nur vernebelte und programmatische Sichten wahr. Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und entscheiden. Wenn es darum geht, ein neues Narrativ für unsere Zukunft zu finden, dann möchte ich auswählen und entscheiden können, denn ich möchte mich darin wiederfinden. Wenn es das braucht, dann bin ich dafür auch gerne Freiheitskämpfer. Falls ich dabei von einer Mehrheit in der Gruppe der unreflektierten Freiheitskämpfer gesehen werden sollte, dann versuche ich das auszuhalten. Was jetzt reflektiert ist und was nicht, was Sinn macht und was nicht, ... das wird uns ohnedies die Geschichte zeigen, wenn wir in einigen Jahren auf diese Zeit zurückblicken. In einem bin ich mir jedoch ganz sicher. Wenn wir aus der düsteren Energieblase in der wir als Gesellschaft jetzt sind wieder herauskommen möchten ... dann müssen wir Vielfalt zulassen und fühlen wie gut sich das am Ende anfühlt. Dann wird auch der Narzissmus wieder automatisch in seine Schranken gewiesen.