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Gesellschaft und Wissenschaft

Relativierung

Ich stehe auf dem Place Luxembourg vor dem monströsen Europaparlament. Natürlich regnet es, es ist kalt, grau, der ungewohnte Anzug ist eng, die Krawatte würgt. Es ist das Jahr 2001. ich bin von der UNO nach Brüssel versetzt worden, wo ich dann die nächsten vier Jahre zusammen mit Erhard Busek regionale Kooperation, Migrationspartnerschaft und gemeinsame Lösungen für Flüchtlinge in Südosteuropa entwickeln sollte.

09.07.2019

Ich kam direkt aus dem Urwald. Ich hatte gerade 18 Monate im Kongo hinter mir, wo ich in einem Land, das größer als Europa ist, als Operationschef des UNO Flüchtlingshilfswerks sicherstellen musste, dass über 800.000 Flüchtlinge in etwa 30 Lagern tausende von Kilometern voneinander entfernt, versorgt wurden. Es durfte keinen Tag Verzögerung geben, denn in solchen Fällen geht es um Überleben und Sicherheit von Menschen. Selbst wenn die Humanität von Flüchtlingen in Afrika auf die Verteilung von 2.100 kcal, 15l Wasser und ein paar Plastikplanen reduziert ist, heißt das immer noch ca. 500 Tonnen an Hilfsgütern pro Tag die geliefert werden müssen. Ein Planungsfehler kann fatale Folgen haben. Das bedeutet im Voraus alle Eventualitäten einzuplanen, wie einsetzende Regenzeiten, Rebellenattacken oder neue bürokratische Hürden oder weil auf einmal ganz einfach kein Diesel mehr im ganzen Land aufzutreiben ist.

Es galt eine Logistikkette mit einer unvorstellbaren Komplexität sicherzustellen. Lastwagen, die in bewachten Konvois bis zu 12 Wochen brauchten, um 500 Kilometer auf teilweise nicht existierenden, verschlammten Urwaldpisten zu überwinden; Lieferungen von Hilfsgütern, die wir mithilfe von Einbäumen über die Mäander des Kongoflusses in Pygmäendörfer brachten, um dann von dort mit Trägerkolonnen zu Flüchtlingssiedlungen im Regenwald getragen zu werden. Oder es gab Transporte, die mit alten Maschinen von betrunkenen Dschungelpiloten über das grüne, scheinbar endlose Dach des Regenwaldes in entlegene Regionen an das andere Ende geflogen werden mussten.

Genau zehn Jahr vor dem Kongoeinsatz war es meine Aufgabe, für die UNO Lebensmittelkonvois und Luftbrücken im Südsudan nördlich der jetzigen Hauptstadt des Südsudans Juba zu koordinieren und die Verteilung der gelieferten Nahrungsmittel - Mais, Bohnen, Speiseöl, Salz - zu organisieren. Es war ein Kriegsgebiet, in dem die Regierungstruppen des Nordens versuchten, die Abspaltung des Südens zu verhindern. Die Unabhängigkeit kam 20 Jahre später: 2011 nach zehntausenden Toten und unsäglichem Leid. Meine Zeit im Sudan war geprägt durch eine Offensive im November 1991 einer abtrünnigen Rebellengruppe gegen den dominierenden Dinka-Stamm, die in meinem Einsatzgebiet etwa 5.000 - 8.000 Menschen ermordete und auch 100.000 Kühe tötete um den Dinka die Lebensgrundlage zu nehmen. 200.000 Menschen wurden vertrieben und hungerten. Wir kamen nach der Offensive in die zerstörte Region, die sich über 250 km erstreckte, zurück und fanden den vollkommenen Horror, mussten monatelang mit den verwesenden Leichen leben, da es niemanden gab, der die Kraft hatte, sie zu bestatten und versuchten, den Hunger der Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen.

Und bis ich auf den Place Luxembourg in Brüssel kam gab es noch andere intensive, persönliche Erlebnisse, die von der Schlacht der Amerikaner in Mogadischu, dem "Blackhawk Down" Drama bis zum brutalen Krieg in Sri Lanka reichten. Ich sage gern, dass ich ihre schlimmsten Fieberträume gelebt habt.

Es war in Brüssel, als ich zusammenbrach, da ich nicht mehr mit dem Konsum, Luxus, der Leichtlebigkeit und auch dem, was ich als Gleichgültigkeit empfand, umgehen konnte. Ich schwebte über dieser anscheinend heilen Welt, wertete und strafte innerlich ab, entwickelte eine Arroganz und verachtete Menschen, denen es gut geht.

Ich brauchte Hilfe. Ein Jahr bei einem Psychiater auf der Couch half mir zu aktzeptieren, dass es verschiedene Welten gibt, dass alle ein Recht haben, ihr eigenes Leben zu leben und dass es nicht schlecht ist, keine oder wenige existentielle Sorgen zu haben. Es wurde mir auch klar, dass es weiterhin meine Aufgabe und auch Passion sein würde, die notwendigen Brücken zu schlagen, die es braucht, damit Errungenschaften der Menschheit auch allen zugänglich gemacht werden können.

Aber dann... finde ich halt eben auch weiterhin, dass man erst mal relativieren sollte, ehe man sich über eine kleine Zugverspätung aufregt. Oder?

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Der Autor
Kilian Kleinschmidt

Kilian Kleinschmidt ist ein humanitärer Migrationsexperte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in vielen Ländern, Krisensituationen und Flüchtlingslagern. Er hat für die Vereinten Nationen und vor allem das UNO Flüchtlingshilfswerk UNHCR gearbeitet und war in das Management vieler   der größten Krisen der Welt involviert.

Kilian Kleinschmidt hat 2015 seine Autobiographie “Weil es um die Menschen geht” (Econ) geschrieben und die Bücher “Beyond Survival” (2016, Mair-Dumont) und “Tod dem Helfer”(2017,Mair-Dumont)  veröffentlicht.

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